Architektur im Kaiserreich
Braunschweig 1871-1918
Architekturführer
Schon im 18. Jahrhundert wurden die Weichen für die Industrialisierung in Europa gestellt. Besonders in Großbritannien, wo zahlreiche Kolonien, eine liberale Wirtschaftsordnung und großer Erfindergeist (Dampfmaschine und Eisenbahn) für umfassende Umwälzungen sorgten. Damit verbunden waren ein starker Bevölkerungsanstieg und ein sprunghaftes Wachstum der Städte, aber auch schwere soziale Probleme.
In Deutschland, das sich bis 1871 noch als Staatenbund souveräner Monarchien und Stadtstaaten präsentierte, trat die Industrialisierung mit einer gewissen Verzögerung ein. Sie nahm hier erst nach der 1871 erfolgten Reichsgründung wirklich Fahrt auf und ließ das Deutsche Reich bis 1914 zu einer führenden Wirtschaftsmacht wachsen.
Mit der Gründung der ersten deutschen Staatseisenbahn wurde 1838 auch in Braunschweig ein neues Kapitel der Stadtentwicklung aufgeschlagen. Die Schaffung der Eisenbahnverbindungen markiert hier einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Industrialisierung. Nach 1871 verstärkte sich diese Tendenz und auch das Wachstum der Stadt.
Seit der Anlage der Wallpromenaden bestand die Möglichkeit, auch außerhalb der immer dichter bebauten Innenstadt zu siedeln. Vor 1870 wurde der Bereich vor den Umflutgräben jedoch eher zögerlich erschlossen. Es entstanden dort die ersten Mietwohnhäuser, in der Regel noch in Fachwerkbauweise. Auf diese Situation reagierte der damalige Stadtbaurat Carl Tappe mit einem Stadterweiterungsplan. Dieser erwies sich bald als unzureichend. 1889 wurde der von Stadtbaurat Ludwig Winter erarbeitete Ortsbauplan beschlossen. Er wurde die Grundlage für eine Stadterweiterung, die bis heute das Gesicht der Stadt wesentlich mitprägt. Entscheidende Merkmale dieses Plans waren die Anlage einer Ringstraße sowie regelmäßiger Stadtquartiere. Ein großer Vorzug des Winter-Plans ist die Erhaltung der wertvollen Wallpromenade, da die neuen Ringstraßen außerhalb der bereits bebauten Gebiete angelegt wurden. Östlich des alten Stadtkerns entstand eine dominierende Achse mit großbürgerlichen Wohnquartieren. In sämtlichen Erweiterungsgebieten wurden neue Kirchenbauten und Schulen errichtet. Im Norden und Westen erfolgte die Umsetzung des Ortsbauplans weniger einheitlich, dort entstanden auch die großräumige Industriegebiete. Die Quartiere der westlichen Erweiterung wurden zumeist mit schlichten Arbeiterwohnhäusern in Ziegelmauerwerk bebaut.
In den neuen Arbeitervierteln kam es zu weniger verdichteten Wohnquartieren als in Berlin und in anderen Großstädten. Trotzdem fehlten dauerhaft Wohnungen für die große Mehrheit der Bevölkerung, deren Einkommen im günstigen Fall knapp für den Lebensunterhalt ausreichte. So verschlechterten sich die Lebensverhältnisse in weiten Gebieten der alten Innenstadt mit ihrer kleinteiligen Fachwerkarchitektur. Die Überbauung der dortigen Innenhöfe setzte sich fort. Sie waren um 1900 durch zusätzliche Wohn- und Speichergebäude sowie Gewerbebauten zugesetzt. Hier existierten oft miserable Wohnverhältnisse. In manch kleinem Fachwerkhaus mussten mehrere Familien mit zahlreichen Kindern leben. Bisweilen wurden noch einzelne Bettstellen an so genannte Schlafgänger untervermietet. Hinzu kamen Verfallserscheinungen an der oft jahrhundertealten Bausubstanz. Wer es sich leisten konnte, siedelte in den Neubauvierteln, welche die Innenstadt nun umgaben.
Neben der Erweiterung Braunschweigs erfolgten umfangreiche Eingriffe in die Struktur der historischen Kernstadt. Mit der schrittweisen Kanalisierung des innerstädtischen Okerlaufs konnte 1873-84 eine neue Straßenverbindung direkt vom Bahnhofsvorplatz sowohl zum Kohlmarkt als auch bis auf den Hagenmarkt geschaffen werden. Die Durchbrüche machten den Abbruch historischer Bausubstanz erforderlich. An den neu angelegten Straßenzügen entstanden neben Wohn- und Geschäftshäusern öffentliche Gebäude, wie die ehemalige Oberpostdirektion, das neue Rathaus und das Regierungsgebäude. Im Umfeld des Burgplatzes wurde eine repräsentative Stadtkrone ausgebildet. Auch am Wallring wurden öffentliche Bauten errichtet: Das bereits 1861 eröffnete Staatstheater, das Herzog-Anton-Ulrich-Museum und das Städtische Museum. Im Nordwesten der Innenstadt konnte 1877 das Gebäude der Technischen Hochschule bezogen werden.
Mit dem Um- und Ausbau der Stadt erfolgten auch entscheidende Maßnahmen zur Schaffung einer modernen Infrastruktur. im Jahre 1851 wurde die „Braunschweigische Gaserleuchtungsgesellschaft“ gegründet, die Anfänge der Straßenbeleuchtung reichen in das 18. Jahrhundert. 1865 wurde im Süden der Kernstadt ein erstes Wasserwerk errichtet, dessen Wahrzeichen, der Druckturm, noch erhalten ist. 1901 erfolgte der Bau des Giersberg-Wasserturms. Eine öffentliche Stromversorgungsnetz konnte um 1890 in Betrieb genommen werden. In den 1890er Jahren ließen die Stadtväter die Kanalisation anlegen. An der östlichen Peripherie entstand ab 1887 der großzügig angelegte Hauptfriedhof. Die genannten Errungenschaften verbesserten, neben dem Bau von Krankenhäusern, die Lebensverhältnisse der Braunschweiger.
Ein Großteil der seinerzeit neu errichteten Gebäude wird heute der Epoche des Historismus zugeordnet. In der Architektur- und Kunstgeschichte bezeichnet man den Zeitraum zwischen ca. 1830 bis in das frühe 20. Jahrhundert als Zeitalter des Historismus. Schon in den Jahrzehnten um 1800 wurden Architekturzitate aus der Baugeschichte verwendet. Damals entdeckte man, im Geist der Romantik und als Zeugnis der eigenen Geschichte, die Baukunst der Gotik wieder. Es folgte die wissenschaftliche Beschäftigung mit historischen Bauwerken. Daraus ergab sich schließlich eine möglichst korrekte Anwendung ihrer Bauformen auch für aktuelle Bauprojekte. Im Zuge der Industrialisierung und wachsender Städte entstand eine Vielzahl neuartiger Bauaufgaben. Die nun entstandenen Verwaltungsbauten, Schulen, Bahnhöfe und Fabrikationsstätten erhielten Fassaden und Innendekorationen im Gewand verschiedener Epochen. Baudenkmäler wurden aufwändig restauriert und bekamen dabei häufig ein als ideal gedachtes Erscheinungsbild ihrer ursprünglichen Bauzeit. Sie wurden purifiziert, so auch der Braunschweiger Dom. Das kulturgeschichtliche Phänomen des Historismus hatte verschiedene Hintergründe:
- In einer Zeit großer gesellschaftlicher und technischer Umbrüche suchte man Halt in der Vergangenheit.
- Herrscherhäuser, Adel und Großbürgertum verwendeten historische Bauformen auch im Sinne einer Legitimierung ihres Standes.
- Kulturgeschichtliche und humanistische Bildung hatten einen hohen Stellenwert und wurden, wie auch der Wohlstand der Bauherren, nach außen zelebriert.
Um 1900 wurde die Kunst von neuen Strömungen bestimmt. Als bekannteste Epoche ist hier besonders der Jugendstil zu nennen, dessen freie Formen vielfach in der Pflanzenwelt gründen. Jugendstilbauten sind in Braunschweig verhältnismäßig selten. Die damaligen Reformbestrebungen umfassten verschiedene Aspekte des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens und führten in der Architektur schließlich zu einer Versachlichung der Bauformen. Man spricht daher auch von einer „Reformarchitektur“. Hier war ein gewisser Rückgriff auf barocke und klassizistische Motive aktuell. Die Gebäude erhielten wohl ausgewogenene Proportionen sowie dezenten Baudekor. Bisweilen zeigen diese Bauten auch eine gewisse Monumentalität. In den Jahren um 1910 entstanden auch in Braunschweig erste Stahlbetonskelettbauten, deren Fassaden diese Bauweise auch durchscheinen lassen. Der Weg in eine moderne Architektur war bereitet. Eine Architektur, die den Einfluss des Industriezeitalters widerspiegelt. Im Städtebau verließ man die bisherigen Schemata von Regelmäßigkeit sowie Achsenbildung und versuchte, lebendige Stadträume zu schaffen. Der Historismus der wilhelminischen Ära geriet dagegen immer mehr in die Kritik und wurde schließlich, nach 1918, vielfach scharf abgelehnt.
Diese Ablehnung währte bis in die 1970er Jahre. Sie rührte sowohl von der kunstgeschichtlichen als auch von der historischen Sichtweise auf das Zeitalter nach der Reichsgründung von 1871 her. Die folgenden Generationen sahen in der Architektur des späten Historismus, in den so genannten Gründerzeitbauten, keine eigenständigen baukünstlerischen Leistungen. Sie verwiesen auf den Widerspruch zwischen technisch-zivilisatorischem Fortschritt und einer Architektursprache, die rückwärtsgewandt erschien.
Heute sind die Bauten und Stadtquartiere der Kaiserzeit zwischen 1871 bis 1918 ein selbstverständlicher Teil unseres kulturellen Erbes. Diese Veröffentlichung soll zu ihrer Veranschauung beitragen.
Texte: Elmar Arnhold
Fotos: Sándor Kotyrba
100 Seiten, 15cm x 15cm, Softcover
ISBN: 978-3-942712-28-6