Architekturführer

Fachwerkarchitektur in Hildesheim

Neben den mittelalterlichen Sakralbauten war das alte Hildesheim von einer geradezu unübersehbaren Fülle an historischen Bürgerhäusern geprägt. Hier überwog die Zahl der Fachwerkbauten bei weitem die der steinernen Wohngebäude. Fachwerk bestimmte bis in das 19. Jahrhundert das alltägliche Baugeschehen in Hildesheim sowie in der gesamten Region. Die hiesige Fachwerkarchitektur gehört in den Bereich des niederdeutschen Fachwerks.

Im aufstrebenden, hochmittelalterlichen Hildesheim (12. und 13. Jahrhundert) entstanden neben bedeutenden Sakralbauten auch anspruchsvolle Wohnhäuser für vermögende Stadtbewohner. Solche Wohnbauten waren bisweilen große Steinhäuser mit repräsentativen Fassaden. Mit dem gegen 1300 errichteten Tempelhaus am Markt ist ein schönes Beispiel erhalten. Eine Variante des mittelalterlichen Wohnbaus waren zweiteilig aufgebaute Bürgerhäuser. Sie umfassten einen in Fachwerk errichteten sowie einen massiv ausgeführten, steinernen Gebäudeteil. Solche Steinwerke oder Kemenaten sind in zahlreichen norddeutschen Städten überliefert. In Hildesheim sind allerdings nur wenige Beispiele dieser Bauform bekannt.

In den Städten zwischen Harz und Weser bildeten sich an den Fachwerkbauten jeweils spezifische Varianten konstruktiver und gestalterischer Art aus. Hier sind die unterschiedlichen Ausprägungen des für den niederdeutschen Fachwerkbau typischen Schnitzwerks besonders bemerkenswert. Jede der größeren Städte brachte ihre Eigenheiten hervor.

Der Begriff Fachwerk beschreibt keinen Stil sondern eine Baukonstruktion. Es handelt sich um eine Holz-Skelettbauweise, wobei die senkrechten und waagerechten Gefügeteile so genannte Gefache umschließen, die mit anderen Baumaterialien, z.B. mit Lehmflechtwerk oder Backsteinen, geschlossen (ausgefacht) werden. Ein Fachwerkgefüge ruht über einem steinernen Fundament, das als Sockel über das Bodenniveau reicht. Auf dem Sockel liegt die Grundschwelle, welche als Auflager für die tragenden Stützen (Ständer) dient. Bis in das 13. Jahrhundert war es üblich, die Stützen wie Pfosten in den Boden einzugraben und hier auf einzelne Fundamentsteine zu stellen. Solche Pfostenbauten waren mit ihren eingegrabenen Stützen nicht sehr dauerhaft.

Die frühesten Fachwerkbauten werden als Ständerbauten bezeichnet, da die tragenden Stützen die wesentlichen Gefügeelemente darstellen. Die Ständer laufen auch bei mehrgeschossigen Häusern von der Grundschwelle bis an den Dachansatz (Traufe) durch. Die Balkenlagen der Geschossdecken sind jeweils in den Ständern ein- bzw. durchgezapft. Solche Ständerbauten, wie sie sich vereinzelt in Quedlinburg (Wordgasse 3 von 1347), Halberstadt und auch Braunschweig erhalten haben, sind in Hildesheim nicht überliefert.

In Hildesheim herrschte seit dem 15. Jahrhundert die traufständige Bauweise vor. Dies bedeutet, dass die Häuser meist mit der Dachseite zur Straße ausgerichtet wurden. Dies ist in historischen Abbildungen und in den erhaltenen Quartieren deutlich zu sehen. In der vorangegangenen Epoche, im 12. und 13. Jahrhundert, waren die meisten Wohngebäude vermutlich giebelständig. Vereinzelt wurden Giebelhäuser auch noch in späteren Zeiten errichtet (Knochenhaueramtshaus). Ein Wechsel in der Ausrichtung der Häuser zur Straße von der Giebel- zur Traufstellung, die so genannte Firstschwenkung, ist für zahlreiche andere Städte ebenfalls zu belegen.

Der reine Ständerbau wurde frühzeitig durch eine Mischbauweise abgelöst, indem man die Obergeschosse an den straßenseitigen Fronten auskragen ließ, während die Rückseiten der Häuser weiterhin mit durchgehenden Ständern errichtet wurden. Somit war eine neue Konstruktionsweise entwickelt: der Stockwerkbau. Bei Stockwerkbauten ist jedes Stockwerk eigenständig abgezimmert, so dass die Ständer entsprechend nur noch über eine Geschosshöhe reichen und in jedem Stockwerk über entsprechenden Schwellen ruhen. Die Balkenlagen konnten nun über die Wandgefüge der darunter liegenden Stockwerke auskragen. Diese Auskragungen sind ein hervorstechendes Merkmal der Fachwerkarchitektur des 15. und 16. Jahrhunderts. Sie geben den entsprechenden Bauten ihre kraftvoll plastische Gestalt. Die Mischbauweise wurde im Verlauf des 16. Jahrhunderts durch den reinen Stockwerkbau abgelöst. Die Vorkragungen blieben oft auf die Hauptfassaden der Häuser beschränkt. Dies ist als Hinweis auf wohl vorwiegend gestalterische Gründe für die Auskragungen zu werten.

Die ältesten in Hildesheim derzeit bekannten Fachwerkhäuser stammen aus dem 15. Jahrhundert und zeigen sich als Stockwerkbauten. Für die stilistisch in die späte Gotik und die Renaissance einzuordnenden Bauten des 15. Jahrhunderts bis zum 30-jährigen Krieg (1618-1648) ist das bisweilen reiche Schnitzwerk an den Fassaden charakteristisch. An Hand des Wandels der Schmuckformen kann man die Häuser zeitlich gut einordnen. Das Leitmotiv der Fachwerkornamente im niederdeutschen Raum ist die Fächerrosette, eine klassische Zierform der Renaissancezeit. Sie war auch in Hildesheim weit verbreitet. Gleichzeitig erfreuten sich figürliche Darstellungen und pflanzliche Dekorationen sowie Grotesken großer Beliebtheit. Figurenknaggen sind bereits an Bauten des 15. Jahrhunderts zu finden.

Daneben trat seit Mitte des 16. Jahrhunderts eine Fassadengestaltung in Erscheinung, die Anlehnungen an zeitgenössische Steinbauten erkennen lässt. Waagerechte Gefügeteile wurden gesimsartig ausgebildet und Fenster mit Profilrahmungen versehen. In der weiteren Entwicklung schmückte man Portale und Fassadenständer mit Pilastern. Knaggen wandelten sich zu Renaissancekonsolen. Nach 1550 wurden die Brüstungsfelder immer häufiger durch Holztafeln mit figürlichen Reliefdarstellungen besetzt. Die Darstellungen wurden inhaltlich zusammengefasst. Es entstanden Bildprogramme mit Themen wie den Fünf Sinnen, den Sieben Freien Künsten, Lastern und Tugenden, Gelehrte des Altertums und auch biblischen Darstellungen. Um 1600 entfaltete sich hier geradezu ein Wettbewerb, die Bauherren versuchten, sowohl ihren Reichtum als auch ihre Bildung zu präsentieren (siehe Marktstraße 21 und Hinterer Brühl 12a). Man kann dieses einzigartige Phänomen in der Fachwerkbaukunst durchaus als „Hildesheimer Spätrenaissance“ bezeichnen. Der Zusammenhang mit den zeitgenössischen Steinbauten ist unübersehbar, wie die Auslucht des „Tempelhauses“ am Markt beweist.

Ein entscheidender Wandel in Konstruktion und Gestaltung der Fachwerkarchitektur setzte sich im frühen 18. Jahrhundert durch. Er bestimmte das Erscheinungsbild der Bauten über die Barockzeit und das Rokoko bis zum Klassizismus, in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die bisherigen Baugepflogenheiten wurden zugunsten einer Angleichung an den zeitgenössischen Massivbau aufgegeben. Die Fachwerkbauten wurden nun häufig einfarbig überstrichen oder verputzt. An die Stelle der bisher frei sichtbaren Balkenköpfe traten profilierte Geschossübergänge. Zur Schaffung von Fensterachsen mit genügend Zwischenabstand errichtete man die Fassaden mit Doppelständerfachwerk. Mit Schnitzwerk wurde in der Regel nur noch der Bereich der Eingangssituationen und Dielentore bedacht.

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts kam in der Epoche des Historismus auch das Fachwerk des 15. bis 17. Jahrhunderts wieder zu Ehren. Neben ersten Restaurierungen wurden neue Fachwerkbauten in der gerade aktuellen Formensprache von Neugotik und Neorenaissance errichtet. Gleichzeitig erfolgten im Zuge des Aufschwungs in der Zeit um 1900 auch zu zahlreichen Abbrüchen und Neubauten in der Altstadt.

1945 wurde die Innenstadt weitgehend zerstört, es verblieben lediglich die Quartiere in der Umgebung der Godehardikirche und der südlichen Neustadt. Der schmerzliche Verlust von absoluten Spitzenwerken der Fachwerkbaukunst, deren Symbol das Knochenhaueramtshaus war, führte in den 1980er Jahren zu einer durchaus umstrittenen Rekonstruktion dieses Bauwerks und der historischen Fassaden des Marktplatzes. Diese Publikation präsentiert eine Auswahl der erhaltenen und neu geschaffenen Kleinode der Fachwerkarchitektur. Sie gehören zum großartigen Kulturerbe der alten Bischofsstadt.

64 Seiten, 15cm x 15cm, Softcover
ISBN: 978-3-942712-21-7

Fotos: Sándor Kotyrba
Texte: Elmar Arnhold